Reason Rasa

Wenn die Kontrolle nachlässt, kommen Gefühle auf, und die Beziehung zur Welt wird tiefer. Dass Unschärfe als Signal für Gefühle, Träume und Phantasie gilt, hängt mit der Entwicklung der europäischen Philosophie zusammen. Die Geometrie galt seit Platon als ideale Form der Erkenntnis, und ab dem 16. Jahrhundert wurde die Form geometrischer Problemlösungen zum Vorbild für wissenschaftliches Denken. Ein Problem wird in seine einfachsten Einheiten zerlegt und dann auf logische Weise wieder zusammengefügt. In der antiken und mittelalterlichen Philosophie war die Logik nicht die einzige Form des Erkennens. Die Rhetorik kannte zum Beispiel auch Analogien und Metaphern.

Für das tägliche Miteinander sind Analogien und Metaphern viel wichtiger als eine Erkenntnis more geometrico. Vieles, das für unser Leben von Bedeutung ist, hat keine scharfen Grenzen und Kanten und ist in gewisser Weise konturlos. Gefühle sind kontur- und gestaltlos, aber mächtig. Gefühle teilen sich den Beteiligten sofort mit. Die Kunst lebt davon, dass Gefühle die Betrachtenden atmosphärisch erfassen. Atmosphären können Räume erhellen oder verdüstern, verkleinern oder erweitern, ohne dass sich am physikalischen Raum etwas ändert. Atmosphären sind etwas wie eine Aura, etwas Ungreifbares, das einen Raum zum lebendigen Raum macht, nicht zu sehen und zu greifen, aber deutlich zu spüren ist. Doch dieses „Spüren“ ist eine Art von Tabu. In anderen Kulturen dagegen spielt „Spüren“ eine wichtige Rolle. (1)

Rasa ist der zentrale Begriff der klassischen indischen Ästhetik. Die Rasa-Theorie ist eine auf einer Logik der Gefühle basierende Ästhetik. Die Hervorrufung von Gefühlen im Betrachter ist aber nicht nur das Ziel des künstlerischen Prozesses, sie ist auch der Schlüssel zur strukturellen Integrität des Werkes. (2) Die Theorie bezieht sich gleichermaßen auf die künstlerische Seite der Produktion wie auf die ästhetische Seite der Rezeption. Rasa ist die Essenz der Gesamtheit aller Qualitäten, die ein Werk ausmachen: Aufgabe ist es nicht, persönliche Gefühle auszudrücken. Der Künstler objektiviert Gefühle. Künstler und Rezipient werden aus ihrer privaten Alltagserfahrung herausgelöst und in die Ebene einer kollektiven menschlichen Erfahrung gehoben.

Der Dogmatismus des neoliberalen, gewinnorientierten Denkens zerstört das friedliche „leben und leben lassen“. Das Lebensgefühl von Rasa und die kritische Kapazität des Verstandes müssen integriert werden, sagt die indonesische Menschenrechtsaktivistin Ayu Utami: „Reason is like sex, rasa is like love – Wir brauchen einen Dialog mit dem Besten, das Rasa geben kann, mit dem Besten, was der kritische Verstand leisten kann, im Licht des Mitgefühls.“ (1)

1 Ursula Baatz: Reason Rasa. In: Brennstoff No. 42. 2015

2 Harriette D. Grissom: Feeling as Form in Indian Aesthetics. In: East-West Connections. 2007

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white-white, house paint on canvas
each 18x18cm, 2016
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30x40cm, 2017
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chalk on linen
50x70cm, 2017
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30x40cm, 2016
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30x40cm, 2017
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50x70cm, 2017
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50x70cm, 2016
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50x70cm, 2016
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pigments and chalk on canvas
50x70cm, 2016
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