kunst ist
eine glücksstrategie. alles andere wäre lächerlich. glück hieß früher, in mittelhochdeutschen zeiten, gelück. der rest liegt auf der hand: gelücklich ist, wem es gelingt, sich offen zu halten, öffnungen, lücken eben, zu pflegen. künstler waren schon immer eher undichte, poröse figuren. wogegen für harsche zeit-genossen alles per

zahl und zeit
kontrollierbar sein muss. eine der für mich erhellendsten lektüren der letzten 20 jahre war der bericht daniel everetts über den indigenen Stamm der pirahã, einer kleinen restethnie im amazonasgebiet, die in einer weltweiten studie als das glücklichste volk des planeten ermittelt wurde. den pirahã ist das westliche kulturprodukt zeit absolut fremd. intuitiv vermeiden sie alles, was in richtung zeit / dauer gehen könnte. sie rechnen auch nicht. sie sind nicht imstande, die fische, die sie fangen, zu zählen. sehen aber genau, wann der fang für ein mahl der familie oder des stammes ausreicht. außer jagdgerät und fischzeug besitzen die pirahã nichts, was dauerhaft hält. wenn ein sturm eine ihrer hütten wegbläst, wird innerhalb eines tages eine neue gebaut. und obwohl sich die frauen mit pflanzen und hölzern sehr gut auskennen, verwenden sie für körbe nur solche lianen, die sich schon am nächsten tag wieder auflösen. keine dauer, keine messbare zeit. das bedeutet in folge: kein besitz, keine soziale hierarchie, kein krieg. doch viel gelück. in dieser erzählung, die der autor daniel everett selbst nur in ansätzen zu deuten weiß, ist alles enthalten, was letztlich ein gelingendes leben ausmacht. freilich bedarf es der übersetzung in unsere heutigen verhältnisse: wie funktioniert die zahllose zahl, wie die zeitlose zeit, das formlose bild? ich habe mein thema nicht gänzlich aus den augen verloren: olivers fast-nicht-malerei mit meist nur einer einzigen

farbe
bzw. einem monochromen farbpulver. es ist das pure pigment, das oliver auf eine un/grundierte leinwand aufträgt, mit einem weichen pinsel trocken verstreicht. „vertreiben“ heißt der terminus. die farbe wird also nicht fixiert. es gibt keinen abschluss. keine vernissage. der begriff vernissage stand früher für den letzten arbeitsgang, das zulackieren des fertigen gemäldes vor zeugen. vor dem vernissagenpublikum wurde vernis, klarlack, auf das bild aufgetragen, das werk versiegelt. das kommt für oliver und seine bilder nicht in frage. er lässt die farbe frei.

vor ein paar jahren ging oliver durch eine noch radikalere phase der reduktion. da war quasi gar keine farbe mehr im spiel. leinwände, eigentlich nesselgewebe auf keilrahmen, beinahe unberührt. an den rändern spuren von schwarz, grau. nur noch nebengeräusche. dann kehrte die farbe zurück. doch

kein motiv,
keine komposition. rückkehr der malerei von den rändern in die mitte des rechtecks, beinahe formatfüllend, monochrom. sonst nichts. und doch eindeutig malerei. keine minimalistischen farbproben, keine konzeptuellen sturheiten. bei genauer betrachtung durchaus gestische bewegungen, doch sehr verhalten. subtilste klänge. obertonmalerei? ich muss an

john cage
denken, der die partitur für eine komposition für orgel mit der tempoangabe „as slow as possible“ überschrieb. die uraufführung dauerte 29 minuten. der komponist lebt schon nicht mehr, als im jahr 2001 in der sankt-burchardi-kirche in halberstadt, sachsen-anhalt, die ultimative aufführung beginnt. sie wird 639 jahre lang dauern, bis 2640. der letzte klangwechsel, d.h. schritt von einem ton / akkord zum nächsten, erfolgte am 5. februar 2022, der nächste wird am 5. februar 2024, vermutlich wieder vor viel publikum, stattfinden. in der partitur des bekanntesten werks von john cage, 4‘ 33‘‘, uraufgeführt 1952 vom fulminanten pianisten david tudor in woodstock, steht dreimal das wort „tacet“. während der aufführung wird auf der bühne kein einziger ton produziert. mit seinem „stillen stück“, welches den ausführenden und dem publikum eine dreisätzige, insgesamt vier minuten dreiunddreißig sekunden währende generalpause verordnet, setzt er kunst praktisch ganz ohne werk in gang.

olivers monochrome
malereien gibt es in nur wenigen farben. hin und wieder rückkehr zum weiß, dem er über jahre als einziger „farbe“ die treue gehalten hat. jede farbe steht als metapher für einen sektor von wirklichkeit. ich habe oliver nicht danach gefragt. wofür, warum, wieso sind ohnehin keine guten fragen in der kunst. sie verführen zum erklären und legitimieren. „kunst argumentiert nicht“, schrieb ingeborg bachmann einmal. wer meinen freund akio suzuki auf ikonografische, programmatische hintergründe seiner kunst – musiken, performances, skulpturen, installationen – anspricht, erhält ziemlich sicher keine antwort. akio reagiert ausweichend, spricht allenfalls von seinen materialien und deren widerständen oder vom wetter zur zeit der realisierung. werner herzog bezeichnete einmal das fitzcarraldo schiff, das hunderte menschen über einen berg wuchteten, als „starke metapher“. wofür diese stehe – könne er nicht sagen.

angst
vor dem atelier: eine für außenstehende irritierende wendung, die in einem unserer gespräche in olivers atelier plötzlich auftauchte. angst vor der weißen leinwand, vor dem weißen blatt, dem noch nichts ... haben viele künstler thematisiert – manchmal zelebriert. ich kann das nachempfinden, würde selber aber nicht von angst reden. die unguten aber notwendigen stimmungsschwankungen haben sich bei mir nicht vor leeren blättern, tafeln oder räumen, sondern angesichts misslungener ergebnisse eingestellt. um mitternacht: nie wieder werde ich ein bild, irgendetwas, das einem künstlerischen anspruch genügen könnte, zustandebringen. was bei olivers bildern so anmutig, spielerisch, vielleicht abgehoben, jedenfalls leicht aussieht, entsteht in einem von außen schwer nachvollziehbaren ringen. kampf will ich nicht sagen. in manchem künstlerischen lebenswerk werden die bewegungen allmählich leicht, liquide. von anfang an geht das, meine ich, fast nie. das ringen in der kunst beschreibt marcus steinweg als „zwingen und würgen der wirklichkeit, damit sie das imaginäre, das utopische, das zukünftige ausspuckt.“ das gegenstück zur ringenden und würgenden kunst, und doch damit auf paradoxe art verwandt wäre so etwas wie selbstverständliche kunst, selbstverständlich wie gehen ... wie oliver es manchmal bezeichnet.
im zuge der radikalen aufsprengung der mittel und strategien der kunst war es auch naheliegend, den malstock gegen den wanderstock einzutauschen. richard long und hamish fulton führten das gehen und wandern in den künstlerischen kanon ein. deren werk bedurfte aber der dokumentarischen übersetzung. in der galerie sah man dann quasi partituren und berichte, fotos, karten, texte etc. wenn oliver von der sehnsucht nach einer kunst des selbstverständlichen spricht,

malen so selbstverständlich wie gehen,
meint er etwas anderes. vielleicht die beiläufige überwindung der melancholie angesichts entfremdeten lebens, angesichts der erloschenen feuer, der verlorengegangenen selbstverständlichkeit ungebrochener wirklichkeit:kunst ohne thematisierung von anfang und ende. immer plateau. selbstverständliche, unaufgeregte erregung. ohne geschrei, ohne kompositorische frömmelei. wie musik von morton feldman.
kunst als zeitvertreib. ich meine nicht müßiggang. vielmehr das spielerische vertreiben jener zeit, die man uns eingebrockt hat: des kulturprodukts zeit, das uns permanent stresst, das mit geld gleichgesetzt wird, das uns davonläuft, uns krank macht.
kunst als produktive, friedliche revolution. revolvere: zurückdrehen der zeiten, räume, dinge, umstände, bis wir dort ankommen, wo noch alles wirklich ist. vielleicht noch ohne sprache. doch nicht wortlos. nicht ohne sich zu artiku­lieren, zu kommunizieren. nahe dem ersten wort. logos.

wuwei
steht in laozis dao de jing für das uns westlern schwer zugängliche „nicht handeln“. wozu soll das gut sein: wir sollen nicht handeln, dass nichts ungetan bleibt. der dao-weg hat nichts mit zielgeleiteten reisen und pilgerfahrten zu tun, vielmehr mit bewegungen, die das ziel umkreisen, das letztlich nicht zu verfehlen ist, weil wir es längst, schon immer, bewohnen.

oliver
betreibt malerei als sehr ernsthafte askese, diszipliniertes üben, auch nicht-üben ... der geduldige umgang olivers mit einer einzigen farbe gewährt dieser alle zeit, bis sie schließlich ihren ursprung im ganzen, das ich jetzt nicht einfach licht nennen will, preisgibt. die anordnung seiner malutensilien am fußboden seines ateliers wirkt auf mich, als gehorchten die dinge einer unausgesprochenen raumliturgischen rubrizistik. und wenn ich sage, dass die zeit beim betreten seines atelierraumes fast augenblicklich erlischt, klingt das pathetisch, stimmt aber insofern, als das schlichte setting spürbar präsenz einfordert und gleichzeitig leicht macht. einmal, als john cage die eingangstür zu einem restaurant öffnete, fragte ihn ein freund, worin der unterschied zwischen gewöhnlichem eintreten und dem eintreten als künstlerischer aktion liege. seine spontane antwort war:

if you celebrate it,
it’s art: if you don’t, it isn’t. feiern meint hier wohl totale öffnung auf das potenzial des gegebenen augenblicks. die geschilderte situation lässt sich auf jede tätigkeit, auf beinahe jeden moment des tages übertragen. die diskrete ritualisierung eines geschehens kann dieses den konditionierungen,
abstumpfungen und einengungen der alltagsroutine entziehen und ins offene zurückspielen.

kunst lebt
vom schauen; hören ist mitgemeint. in unserer macherwelt begreift kaum noch jemand, was das heißt: schauen. diese vielleicht stillste tätigkeit ist zugleich die mächtigste. auch die im kontext von kunst maßgebliche vokabel schön kommt von schauen. ich übersetze das wort daher einfach mit sichtbar. sicht bar, bare sicht. aus wissenschaftlicher perspektive gibt es das gar nicht, weil geglaubt wird, dass jede weise des sehens gelernt wurde. bares schauen gibt es gewiss nicht als etwas isolierbares, das sich im labor untersuchen lässt. gleichwohl ereignet es sich. bares, offenes schauen changiert zwischen aktivität und passivität, findet in zuständen entspannter wachheit statt. im kontemplativen wahrnehmen offenbart sich wirklichkeit reicher als alle erscheinungen, die wir in der sprache begrifflichen erkennens fixieren können. um diesen anderen reichtum geht es, wenn wir vom schauen reden – und vom schönen, dem trotz aller brechungen der (post)moderne noch immer zentralen topos der kunst.

olivers kunst
versucht gar nicht, ihren ikonoklastischen beigeschmack zu verbergen. du sollst dir kein bildnis machen? offensichtlich war es in unserer schon über jahrtausende idolatriekranken kultur, die über die mystiker-eliten hinaus kaum bildskeptische kräfte zu entwickeln vermochte, ein leichtes, exegesen zu ersinnen, die das elementare jüdisch-christliche gebot ausschalteten. in der kunst jedoch erweisen sich immer wieder bildverzicht und -vermeidung als unverzichtbare werkzeuge. für die kunst des schreibens hat marguerite duras die gefahr bildhafter verfestigung ungemein luzide angesprochen: „manchmal weiß ich: wenn das schreiben nicht, alle dinge vereinend, ein flüchtiges sprechen in den wind ist, so ist es nichts. wenn das schreiben nicht jedes mal alle dinge zu einem einzigen, seinem wesen nach unbestimmten vereint, so ist es nichts weiter als werbung.“


Erschienen in:
Ja (und Nein)
Oliver Nutz
Bilder Paintings 2013-2023
Katalog ISBN 9783200091672
Softcover, 128 Seiten, Krems 2023
Kontakt: oliver.nutz@drei.at